07.10.2011

Das Holzpferdchen – Bericht einer Auschwitz-Reise

Kein Wort ist zu hören, kein Atmen. Lediglich die Nylon-Jacken von Sandra und Martin rascheln ein wenig, und Martins Schuhe knirschen auf dem Kies neben dem Weg. Es ist der zweite Tag in Auschwitz. Gestern waren wir im Stammlager, heute sind wir in Birkenau. Wir, das ist ein bunt zusammengewürfelter Haufen von 42 Leuten, die sich auf die Bildungsreise begeben haben, die das Frankfurter Fanprojekt organisiert hat. Vorbereitungstreffen, ein lesenswerter Reader, gestern eine informative Führung im Stammlager vorbei an Bergen von menschlichem Haar, verbogenen Brillen, Prothesen, leeren Koffern...

Doch trotz aller Fakten und Eindrücke, trotz bereits geführter Gespräche mit anderen Teilnehmern der Gruppe und trotz der immer wiederkehrenden Auseinandersetzung mit dem Holocaust, wie sehr ich mit den Dimensionen des Nazi-Terrors überfordert bin, das merke ich hier in Auschwitz so deutlich wie nirgends sonst. Da ist zum einen die Dimension der Massenvernichtung, die meine Vorstellungskraft schier übersteigt. Und dann die Dimension des ideologischen Irrsinns, dieser Wahnidee, einen Kontinent von bestimmten „Rassen“ zu befreien. In der bürokratischen Akribie des NS-Staates vereinen sich diese Elemente zu einer bizarren Mischung aus Größenwahn und Kleingeisterei, da werden Unterhosen gezählt, die den Häftlingen abgenommen und ins Reichsgebiet geschickt werden, da werden die Kapazitäten der Krematorien kalkuliert und da wird das geschorene Haar gewogen.

Bis eben haben wir noch zugehört, was unsere Führerin über das Frauen- und das Männerlager in Birkenaus erklärte, über die Rampe und die Baracken, über Bauabschnitte und Transporte. Haben Fragen gestellt, wie war dies und wie war das. Schließlich wollten wir Gelesenes mit diesem Ort in Verbindung bringen, an dem wir jetzt sind, an dem wir die Weite abschreiten, die Holzbretter der Etagenpritschen berühren können, und der trotzdem unwirklich bleibt. Doch dann treten wir in das Gebäude am Rande des Lagers, zu dem ankommende Juden geführt wurden. Hier mussten sie ihre Kleidung ablegen, die dann rasch desinfiziert wurde. Es gibt einen Haarschneideraum und einem, in dem Kleidung und Gepäck durchsucht wurden. Aus dem Gepäck, das die Juden mit nach Birkenau brachten, stammt eine Vielzahl privater Fotografien, aufgenommen in besseren Jahren, in glücklichen Augenblicken. Mit diesen Kinder- und Hochzeitsbildern, diesen Fotos junger und alter Menschen, sorgfältig inszeniert ob eines feierlichen Anlasses oder schnell geknipst, um einen schönen Moment einzufangen, werden wir konfrontiert, bevor wir – schweigend – das Gebäude verlassen.

 

Viele von uns, das stellt sich in den Gesprächen an diesem und am nächsten Abend heraus, haben einen ganz bestimmten Ort, einen Moment in Auschwitz oder Birkenau, der sie ganz besonders berührt, der sich ihnen ins Gedächtnis brennt, der unter die Haut geht. Für Thomas war es die eben beschriebene Bildersammlung, für Martin die Gaskammer V im Wald, für Andy die Treppenabgänge des von den Nazis kurz vor der Befreiung des Lagers selbst gesprengten Krematoriums. Für Gabi drückte sich viel in dem Blumenstrauß aus, den Besucher von Birkenau auf die Gleise gelegt haben, über die die Waggons zur Rampe fuhren. Was ist es für mich?

 

1986 war ich bereits einmal hier. Damals mit der Schule. Schließlich ist Krakau eine Partnerstadt Frankfurts und unser Gymnasium unterhielt eine Partnerschaft zu einem Lyzeum. 1986, das war die Zeit von Solidarność und dem Kalten Krieg, von einer Reisebegleitung durch ein halbstaatliches Fremdenverkehrsbüro, von Schwarztausch und einer Transitstrecke, auf der unser Reisebus nicht halten durfte. Fast alles hat sich geändert. Doch dieses bleierne Gefühl, das zwar durch Nebel über den Barackenresten von Birkenau verstärkt, aber durch die milde Spätsommersonne im Stammlager nicht vertrieben werden kann, ist dasselbe geblieben. Dieses Frösteln, das die Härchen auf meinem Körper zwar nur leicht bewegen lässt, aber das dennoch all das ins Wanken bringt, von dem ich wider besseren Wissens hoffte, dass es unumstößlich sei: Menschlichkeit, Empathie.

Für mich ist es ein Foto, oder besser: der Ausschnitt eines Fotos. Das Schwarzweißbild hängt im ersten Stock des Blocks, der die Ausstellung über die Deportation niederländischer Juden beherbergt. Am Rande eines Sammelplatzes sitzt ein kleiner Junge. Er trägt eine  graue Jacke mit einem Judenstern. Vor ihm steht ein kleiner Laster und auf dessen Ladefläche ein Holzpferdchen. Wie lange wird sich der Bub mit seinem Spielzeugpferdchen von den Qualen der Fahrt ablenken lassen?  Was passierte mit dem Jungen? Ãœberlebt er? Seine Eltern? Was geschah mit seinen Spielkameraden? All das habe ich in Auschwitz nicht herausfinden können. Doch was ich mit Sicherheit weiß: Hätte ein SS-Mann Gefallen an dem Pferdchen gefunden, er hätte nicht gezögert, es seinen Kindern mit nach Hause zu bringen.

Boris

Einige Eindrücke von der Bildungsfahrt nach Auschwitz könnt ihr euch hier ansehen.

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